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Erinnerung an Progromnacht in Schwerin: Vermächnis wurde noch nicht angenommen

Schwerin, 10.11. 2015. (red/hk). Gestern Abend erinnerten Schwerinerinnen und Schweriner zusammen mit der jüdischen Gemeinde an die Reichsprogromnacht vor 77 Jahren. Dabei stand immer wieder die Frage im Raum: Was

  • Veröffentlicht November 10, 2015

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Schwerin, 10.11. 2015. (red/hk). Gestern Abend erinnerten Schwerinerinnen und Schweriner zusammen mit der jüdischen Gemeinde an die Reichsprogromnacht vor 77 Jahren. Dabei stand immer wieder die Frage im Raum: Was wird aus der Erinnerung?

 

Von Henning Kobs

 

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Der 9. November ist in der deutschen Geschichte ein Datum, das fast symbolisch für unser Land steht. Freude und gleichzeitig auch Leid – am 9. November durchlebte unser Land alles.

 

Gestern Abend gedachte die jüdische Gemeinde in Schwerin einem leidvollen Ereignis. Es ist genau 77 Jahre her: Am 9. November 1938 schlug die systematische Diskriminierung und Verfolgung der der jüdischen Bevölkerung in blanken Terror um. In der Pogromnacht brannten überall in Deutschland und Österreich die Synagogen. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet und geplündert – auch in Schwerin. Da wo heute die Synagoge steht, stand sie auch vor der sogenannten Reichsprogromnacht. Seit der Einweihung 1819 feierten die Schweriner Juden in dem Fachwerkbau ihre Gottesdienste, 1938 dann verwüsteten Nazis die Synagoge, wenige Tage später mussten die Juden selbst das Haus abreißen. Jüdisches Leben wurde in der Stadt damit ausgelöscht.

 

 

Erst nach der Wende 1989 konnte sich jüdischen Leben erst wieder fest in das Stadtleben von Schwerin integrieren. Das ist vor allem mit dem Namen des Landesrabbiners William Wolff verbunden, der bis März Rabbiner der Gemeinden in Schwerin und Rostock gewesen ist. Heute nun ist Wolff im Ruhestand und hält sich meistens in London auf. Gestern war der Ehrenbürger Schwerins aber Schwerin.

 

Angst vor aufkeimenden Antisimitismus

 

Die Gedenkveranstaltung an die Progromnacht in Schwerin fand auf dem Schlachtermarkt statt. Etwa 200 Schwerinerinnen und Schweriner fanden sich ein, um an dieses Ereignis zu erinnern. Dabei waren neben Schwerins Oberbürgermeisterin Angelika Gramkow, dem Sozialdezernenten Andreas Ruhl auch viele Stadtvertreter fast aller Stadtvertreterfraktionen im Rathaus anwesend. Nicht gesichtet werden konnten an diesem Abend Stadtvertreter der Alternative für Deutschland (AfD) und der CDU.

 

Die Veranstaltung gestern Abend war aber mehr als eine reine Gedenkveranstaltung. Gerade die Ereignisse der jüngsten Zeit machen deutlich, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind. Gerade im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Menschen aus Krisengebieten, erleben wir derzeit eine verstärkte Aufheizung der Stimmung in unserem Land. Ängste und auch nachvollziehbare Bedenken, werden von radikalen Kräften aufgeheizt. Das Klima in unserem Land ist mehr als vergiftet und so erinnerte die jüdische Gemeinde gestern Abend mit vorgelesenen Gedichten und Erlebnisberichten daran, dass Diskriminierung und Hetze gegen Minderheiten nicht der Vergangenheit angehören.

 

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Ein alter Koffer und ein moderner Rolly machten symbolisch deutlich, dass Flucht, Vertreibung und Dislriminierung bis heute unsere Welt prägen (c) Schwerin-Lokal

 

Die Juden in Deutschland fühlen sich seit einiger Zeit wieder bedrängt und haben angesichts des zunehmenden Zuzugs von Muslimen Angst vor einem aufkeimenden Antisemitismus. „Wenn man zwanzig oder dreißig Jahre lang mit einem israel- und judenfeindlichen Bild aufgewachsen ist, dann wird man dieses Bild nicht einfach an der deutschen Grenze aufgeben“, hatte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, gerade erst im Oktober gesagt. Die Ablehnung jeder Form von Antisemitismus und das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels, so sagte Schuster damals, gehöre zum Wertekanon in Deutschland. Das müsse deutlicher als bisher klargestellt werden.

 

„Bring den Hungrigen Nahrung!“

 

Landesrabbiner Wolff ging gestern nicht auf diese Bedenken ein, sondern machte deutlich, dass Flüchtlinge aus Syrien und aus anderen Ländern auch mit der Solidarität der jüdischen Gemeinde in Schwerin rechnen dürfen.

 

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Landesrabbiner Wolff betet das Kaddisch-Gebet

 

Was wird also aus der Erinnerung? Das war eine Frage, die gestern Abend mehrmals während der Gedenkveranstaltung gestellt wurde. „Bring den Hungrigen Nahrung!“, war eine Antwort auf diese Frage. Nicht nur für die gestern Anwesenden wurde damit ein klarer Auftrag formuliert. Gedenken ohne Handeln in der Gegenwart bleibt hohler Pathos.

 


 

Vielmehr wird sich in Zukunft zeigen müssen, ob die Menschen das Vermächnis aus der Reichsprogromnacht wirklich für sich angenommen haben? Nur zu sagen „Nie wieder!“ ist zu wenig, zumal Diskriminierung, Hass gegen den Anderen und soziale Kälte bis heute das Zusammenleben der Menschen, auch in Schwerin, prägen. Inwieweit sich heute die Schwerinerinnen und Schweriner aufgerufen fühlen, auch durch die Ereignisse vor 77 Jahren hier mitten in unserer Stadt, Gesicht gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit zu zeigen, wird man sicherlich am kommenden Samstag sehen können, wenn es auf dem Marienplatz eine „Menschenkette gegen Rassismus“ geben soll. An solchen Tagen zeigt sich, inwieweit das Vermächnis vom 9. November 1938 angenommen wurde.

 

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Menschen stellen zum Abschluss Lichter auf und legen weiße Nelken nieder. (c) Schwerin-Lokal

 

Ein jüdisches Gedächnisgebet und das Kaddisch-Gebet, das Gebet für die Toten, beschließt die Gedenkveranstaltung vor der Synagoge. Jeder Anwesende legt dann noch zum Abschluss eine weiße Blume auf dem Schlachtermarkt nieder.

 

 

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Redaktion

der digitalen Tageszeitung Schwerin-Lokal. Kontakt: redaktion@schwerin-lokal.de

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