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Schwerin: „Das Theater hat uns in die Arbeitslosigkeit geschickt“

Es ist wie ein Déjà vu. Denn vor ein wenig weniger als sechs Jahren titelte die Schweriner Volkszeitung „Neuer Intendant feuert Tänzer“. Damals hatte der nun scheidende Intendant des Mecklenburgischen

  • Veröffentlicht März 20, 2021
Es ist dunkel geworden für den Großteil des Ballett-Ensembles am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin. | Foto: Silke Winkler

Es ist wie ein Déjà vu. Denn vor ein wenig weniger als sechs Jahren titelte die Schweriner Volkszeitung „Neuer Intendant feuert Tänzer“. Damals hatte der nun scheidende Intendant des Mecklenburgischen Staatstheaters, Lars Tietje, schon vor Beginn seiner Amtszeit eine in Schwerin für Aufsehen sorgende Entscheidung getroffen: Personalgespräche mit allen Tänzerinnen und Tänzern, deren Verträge regulär ausliefen. Schon da war klar, dass so mancher würde gehen müssen. 

 

Es ist wie ein Déjà vu

Dennoch aber gehört letztlich auch zur Wahrheit, dass es kein „Tietje-Syndrom“ war und ist, mit einem Intendanzwechsel auch in den Sparten personelle Veränderungen umzusetzen. Ein Blick an die zahlreichen Theater und Opernhäuser in Deutschland bestätigt dies. Für Schwerin allerdings war das eher neu. Denn über einen ungewöhnlich langen Zeitraum stand Joachim Kümmritz in führender Verantwortung. Die „Normalität“ der Wechsel mit neuen Intendanten und damit meist auch neuen Verantwortlichen für die einzelnen Sparten, hatte man in Schwerin gar nicht wirklich im Blick. Sicherlich eine „Normalität“ über die man streiten kann – und auch sollte. Denn letztlich ist sie menschgemacht.

 

Beinahe ganzes Ballett-Ensemble muss gehen – Links-Fraktion in Schwerin spricht von einem Skandal

Diese „Normalität“ holt das Mecklenburgische Staatstheater nun erneut ein. Im Sommer steht ein erneuter Intendantenwechsel ins Haus. Dann verlässt Lars Tietje Schwerin, und Hans-Georg Wegner übernimmt. Noch im Sommer vergangenen Jahres schien ein großer Teil der Theaterfans aber auch der Kommunal- und Landespolitik diesen Wechsel zu feiern. Jetzt, da Wegner noch nicht einmal im Amt ist – wie Tietje damals – spricht die Fraktion DIE LINKE in der Stadtvertretung Schwerin bereits von einem „Skandal“. Denn mit Hans-Georg Wegner tritt auch Xenia Wiest als Choreografin und Direktorin des Tanz-Ensembles ihren Job an. Sie hat das gesamte Tanz-Ensemble vortanzen lassen. Und schon jetzt ist klar, dass nur wenige der aktuellen Tänzerinnen und Tänzer zukünftig auf der Theaterbühne in Schwerin stehen dürfen. 

 

Neue Ballett-Direktorin wollte offenbar nur einen Tänzer behalten

Daniel Trepsdorf, Mitglied der Fraktion DIE LINKE in Schwerin, spricht davon, dass „so gut wie alle […] (12 von 14) auf die Straße gesetzt werden“.  Nach aktuellem Stand, so Richard Jones, Sprecher des Tanz-Ensembles, könnten vermutlich sogar drei Mitglieder bleiben. Allerdings nicht, weil Xenia Wiest dies so möchte. Sondern vielmehr, weil eine Tänzerin aufgrund einer Verletzung nicht vortanzen konnte. Hier setzte offenbar die Gewerkschaft ihr Bleiben durch. „Wäre es nach der neuen Ballett-Direktorin gegangen“, so Jones, hätten sogar 13 gehen müssen. Nur einen von uns wollte sie behalten. In einem Fall ist die vertragliche Situation noch etwas anders. Sie wird wohl vorerst auch bleiben können. Alle anderen schickt das Theater aber in die Arbeitslosigkeit.“

 

„Das Theater hat uns in die Arbeitslosigkeit geschickt“

Sein letzter Satz dürfte so manchen Theaterfreund hart treffen. Denn er ist härteste Realität. „Schon normalerweise kommen auf eine ausgeschriebene Tänzerstelle meistens mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler. Jetzt, in der Corona-Pandemie, ist die Situation noch dramatischer“, weiß Jones zu berichten. Und genau das ist es, was ihn und sein Ensemble ganz besonders hart trifft. „Es ist vor allem eine unglaublich große Enttäuschung. Schon seit Monaten leiden wir alle, Künstler und Publikum, unter der Pandemie. Es waren Monate der Unsicherheit, ob und wann und was wir spielen können. Und jetzt kommt eine noch viel größere Unsicherheit hinzu. Die unserer Zukunft“.  „Letztlich sind wir alle Opfer des Intendantenwechsels“.

 

Fast gesamtes Ensemble erhielt Einladung zu Nicht-Verlängerungsgesprächen

Auch Richard Jones muss gehen. | Foto: Silke Winkler

„Wo immer Menschen mitten in der Pandemie auf’s berufliche Abstellgleis geschoben werden, so ist dies in allen Branchen hart. Aber wenn man sie noch menschenunwürdig aus rein juristischen Gründen zu einem Nicht-Verlängerungsgespräch einlädt, vor welchem die Entscheidung zur Entlassung […] bereits feststeht, […], dann ist es ein veritabler Skandal“, so Daniel Trepsdorf. Und Richard Jones bestätigt eben dieses – nicht unübliche – Vorgehen. „Alle, die gehen müssen, haben per Post die Einladung zu einem solchen Nicht-Verlängerungsgespräch mit dem neuen Intendanten bekommen. Ich übrigens auch. Bei diesem darf man dann noch einmal etwas zu der Entscheidung des Hauses sagen“.

Das klingt auf den ersten Blick beinahe positiv. Die Realität aber sieht anders aus: „Dabei ist es egal, was Du sagst. Denn es geht wirklich nur darum, Dir die Redemöglichkeit zu geben. Die Entscheidung steht schon fest. Du musst gehen“. Richard Jones hätte also auch die ganze Zeit einfach schweigen können in dem Gespräch. Eine Situation, die eher nach einem letzten „Vorführen“, nicht aber nach einem ernst gemeinten Gespräch klingt.

 

Tänzerinnen und Tänzer in Deutschland ohne Schutz und Sicherheit

Nun könnte man die berühmte Wortklauberei beginnen. Denn juristisch gesehen werden die Tänzerinnen und Tänzer nicht „entlassen“ und damit auch nicht im umgangssprachlichen Sinn „auf die Straße gesetzt“. Das musste das Publikum in Schwerin schon 2015 lernen. Denn in der Theaterbranche ist es, gerade auch im Tanzbereich, nicht unüblich, dass die Künstlerinnen und Künstler befristete Verträge eingehen. Eigentlich immer Jahresverträge, wie Richard Jones bestätigt. Da diese nun auslaufen, handelt es sich eher um eine „Nicht-Verlängerung“ und eben nicht um eine Entlassung. Und arbeitsrechtlich ist das natürlich auch für beide Seiten wichtig – und beiden Seiten klar. Und die Arbeitgeberseite, also die Theaterhäuser, machen auch gern davon Gebrauch, wenn ihnen danach ist. Für die Tänzerinnen und Tänzer aber bedeutet diese Normalität vor allem eine stetige Unsicherheit und Angst. „Schon wenn man sich verletzt und einfach krank wird, ist meist einer der ersten Gedanken: Hoffentlich verlängern sie dennoch meinen Vertrag“. 

 

„Freiheit der Kunst“ als Argument für Abschied

Richard Jones würde sich für seine vielen Kolleginnen und Kollegen in Deutschland mehr Schutz und mehr Sicherheit wünschen. „Wir haben ja auch dieses Mal wieder versucht, von der Gewerkschaft Unterstützung zu bekommen. Aber da kam nichts“. Vielmehr bekommen die Tänzerinnen und Tänzer stets in diesen Situationen das Argument der „Freiheit der Kunst“ auf den Tisch geknallt. Der Intendant müsse eine größtmögliche künstlerische Freiheit haben, und dazu gehöre eben auch, ganze Ensembles austauschen zu können. „Warum aber“, so fragt Jones, „gilt das nur für einige? Die Orchester beispielsweise sind durch die Gewerkschaft und entsprechend sichere Verträge geschützt“.

 

Trepsdorf fordert von neuer Hausspitze neue, sozialere Wege

Dr. Daniel Trepsdorf | Foto: DIE LINKE, Schwerin

Eine Situation, die für Daniel Trepsdorf spürbar unerträglich ist. „Wenn Menschen so umrangiert, abgeschoben und erniedrigt werden, dann steht fest, dass der geltende Tarifvertrag NV Bühne, der die Möglichkeit regelt, dass Künstlerinnen und Künstler über mindestens 15 Jahre hinweg immer wieder nur befristet eingestellt und grundlos gekündigt werden können, nicht mehr zeitgemäß ist. Auch Kulturschaffende, Künstlerinnen und Künstler brauchen endlich ein Mindestmaß an beruflicher Sicherheit sowie eine Mitarbeitendenvertretung, die auf Augenhöhe mit der Intendanz zu verhandeln in der Lage ist“, so das Linken-Fraktionsmitglied in Schwerin. „Das Recht der Hausintendanz auf ‚künstlerische Freiheit‘ und ein nicht selten bemüht unterstelltes „Recht des Publikums auf Abwechslung“ werden hier schlicht über die Freiheits- und Sicherheitsrechte der künstlerischen Arbeitnehmerschaft gestellt“. Trepsdorf fordert den neuen Intendanten Hans-Georg Wegner und seine neue Ballett-Direktorin Xenia Wiest auf, „neue, sozialere Wege zu gehen“. 

 

Appell auch ans Publikum

Eine Forderung, die dem Tanz-Ensemble um dessen Sprecher Richard Jones nicht mehr helfen wird. Bei dieser Entscheidung dürften „die Messen gesungen sein“. Eine Entscheidung, die zeigt, wie weitreichend der oftmals so hoch gehaltene und viel gerühmte Begriff der „künstlerischen Freiheit“ letztlich doch ist – und wie schnell er eben denen, denen er vermeintlich Freiheit zu geben scheint, nämlich den Künstlerinnen und Künstlern, zum Damoklesschwert wird.

Etwas bewusst themenorientiert poetisch-theatralisch klingend richtet sich Daniel Trepsdorf an das Publikum des Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin: „Das Flutwasser wogt hoch auf den Bühnen sowie in den Orchestergräben der Republik. Und nicht wenigen Kulturschaffenden steht es bereits bis unter die Augenbrauen! Das sollten wir mit bedenken, wenn wir uns als Publikum im akkuraten Zwirn und recht fein aufgehübscht alsbald wieder ins Theaterfoyer setzen, um uns an der Kunst zu erfreuen. Auch die Eintrittskarte zum Schweriner Theaterball mit seinen illustren, wohlbetuchten Gästen, könnte sich kaum ein Schauspieler oder Tänzer vom kargen Lohn leisten, wenn er diesen entrichten müsste.“

 

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Redaktion

der digitalen Tageszeitung Schwerin-Lokal. Kontakt: redaktion@schwerin-lokal.de

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