Sa, 24. Mai 2025
Close

Im Gespräch mit Dr. Daniel Trepsdorf:
„Demokratie darf zuweilen ausgrenzen!”

Dr. Daniel Trepsdorf über Gemeinschaftsverständnis und gegenseitige Verantwortung.

Avatar-Foto
  • Veröffentlicht April 30, 2024
Dr. Daniel Treps­dorf im Inter­view. Foto: max­press

Als Buchau­tor und Leit­er des Demokratiezen­trums der RAA – Demokratie und Bil­dung Meck­len­burg-Vor­pom­mern e.V. ist der Demokratiebe­griff für ihn täglich­er Bestandteil sein­er Arbeit. Im umfassenden Inter­view mit Janine Pleger und Hol­ger Her­rmann äußert sich Dr. Daniel Treps­dorf zur Def­i­n­i­tion, aber auch zum Miss­brauch des Demokratiebe­griffs sowie dazu, wann Demokratie an Gren­zen stößt.

Was ist Demokratie heute oder im besten Fall: Was sollte es sein?

Ich setz mich ja nicht nur mit Demokratie in Par­la­menten auseinan­der, son­dern vor allem auch mit Demokratieen­twick­lung – als Möglichkeit der Kon­flik­t­bear­beitung, als Möglichkeit, eigene Stand­punk­te darzustellen. Und das find ich ganz wichtig. Es gibt da den Vater der Demokratiepäd­a­gogik, den Amerikan­er John Dewey. Er war in den 1930ern bis Anfang der 60er-Jahre unter­wegs. Und er sagte ein­mal: „Demokratie ist vor allem eine Sphäre gemein­sam geteil­ter Erfahrun­gen.“ Und das ist es mal auf einem ganz niederen Niveau dargestellt, ohne irgendwelche Ein­trittshür­den, was Demokratie sein kann. Es ist näm­lich eine Form, die eige­nen Bedürfnisse zu artikulieren, Selb­st­wirk­samkeit zu erfahren und im besten Falle auch die Gesellschaft als Echoraum nutzen zu kön­nen.

Denn es gibt nichts Schlim­meres, wenn man irgen­dein Bedürf­nis hat, und man ist in einem Bergtal gefan­gen und man ruft und kriegt kein Echo. Das spiegeln uns auch unsere Jugendlichen immer wieder, mit denen wir demokratiepäd­a­gogis­che Arbeit umset­zen: Wenn sie das Gefühl haben, gehört zu wer­den, wahrgenom­men zu wer­den, wert­geschätzt zu wer­den und mit ihrer Stimme Gehör erfahren und auch ihre eige­nen Ideen umset­zen zu kön­nen. Dann ist es eigentlich die beste Möglichkeit, sich zu impräg­nieren vor irgendwelchen Total­i­taris­men oder Dem­a­gogien oder Ide­olo­gien. Und das ist wichtig. Das ist für mich diese nach wie vor gültige Def­i­n­i­tion von Demokratie: gemein­sam geteilte Erfahrun­gen in einem sozialen Kon­text, wo ich gehört werde, wo ich Anerken­nung und Respekt finde.

Wer ausbricht, verabschiedet sich aus dem demokratischen Diskurs

Also ist das der Dreh- und Angelpunkt – diese Selb­st­wirk­samkeit? Also, wenn die nicht ver­spürt wird, kippt es – und undemokratis­che Hal­tun­gen entwick­eln sich?

Also wir haben natür­lich sehr viel auch mit extrem­istis­chen Indi­viduen zu tun – ob das nun Islamis­mus ist, Link­sex­trem­is­mus, Recht­sex­trem­is­mus – und immer wieder kom­men wir auch und wer­den von Bürg­erin­nen und Bürg­ern auf das The­ma gestoßen. Wer aus­bricht, ver­ab­schiedet sich aus dem demokratis­chen Diskurs und ist gar nicht mehr daran inter­essiert, die Posi­tio­nen, die Mei­n­un­gen oder auch die Wirk­lichkeitswahrnehmung des anderen mit in die eigene Entschei­dungs­find­ung einzu­binden. Das ist für mich auch eine ganz ein­fache Def­i­n­i­tion von Extrem­is­mus.

Es geht dann nur noch um das autoritäre Durch­set­zen der eige­nen Posi­tion, ohne die anderen zu hören. Und dann ist es undemokratisch. Natür­lich führen eine ganze Menge Ursachen dazu, aber ein wesentlich­er Punkt – den haben Sie sicher­lich mit ange­sprochen – ist, dass ich das Gefühl habe, aus ein­er Frus­tra­tion her­aus nicht mehr gehört zu wer­den. Die Frage, die man sich dann aber selb­stkri­tisch stellen müsste, wäre eigentlich: Habe ich auch alles ver­sucht, mich tat­säch­lich den Foren demokratis­ch­er Entschei­dungs­find­ung gegenüber zu öff­nen, mich mitzuteilen? Oder habe ich schon beizeit­en die Flinte ins Korn gewor­fen?

Es geht nämlich nicht nur um Selbstwirksamkeit, sondern auch um das große Wort Verantwortung, die ich für diese Gesellschaft habe. Und da müssen wir eigentlich die Menschen viel mehr motivieren, Verantwortung zu übernehmen, für die Gesellschaft und für ihre Mitmenschen und sich auch einzumischen.

Dr. Daniel Treps­dorf

Das wäre natür­lich schade, weil es natür­lich man­nig­faltige For­men gibt, sich demokratisch zu engagieren – ob in der Nach­barschaft ist, im Vere­in, bei der Feuer­wehr, also eben auch bei Insti­tu­tio­nen jen­seits der Poli­tik, wo demokratis­che Entschei­dungs­find­ung gut funk­tion­iert. Und da muss man natür­lich kri­tisch über­prüfen: Find­et das statt? Ich habe auf jeden Fall die Erfahrung gemacht, und viele andere auch: Deutsch­land ist ja auch ein Land des Ehre­namtes. Über 380.000 Men­schen sind hier ehre­namtlich engagiert. Ohne diese würde unsere Gesellschaft schlicht und ergreifend kol­la­bieren. Und das sind ja motivierte Men­schen, die sich tat­säch­lich das fra­gen, wie Kennedy schon gefragt hat: Nicht, was das Land oder die Gesellschaft für einen selb­st tun kann, son­dern was man selb­st tun kann, um das Land und die Gesellschaft voranzubrin­gen, Ver­ant­wor­tung zu übernehmen. Es geht näm­lich nicht nur um Selb­st­wirk­samkeit, son­dern auch um das große Wort Ver­ant­wor­tung, die ich für diese Gesellschaft habe. Und da müssen wir eigentlich die Men­schen viel mehr motivieren, Ver­ant­wor­tung zu übernehmen, für die Gesellschaft und für ihre Mit­men­schen und sich auch einzu­mis­chen.

Also ein Zeichen von Extrem­is­mus ist auch: Außer der eige­nen Posi­tion ist mir alles andere egal. Und eine demokratis­che Hal­tung ist genau das Gegen­teil, denn ich möchte, dass mir das Leben der anderen auch etwas bedeutet, dass ich mich ein­mis­che, aber kon­struk­tiv ein­mis­che, um an ein­er Gesellschaft zu arbeit­en.

Nehmen sie unsere Gesellschaft jet­zt hier in Schw­erin oder auch in MV unterm Strich als demokratisch oder undemokratisch wahr? Was ist passiert in den let­zten Jahren?

Ich nehme die Gesellschaft grund­sät­zlich noch als sehr demokratisch wahr. Natür­lich gibt es einen Haufen Kon­flik­te, die es zu bewälti­gen gibt. Und es gibt jede Menge Zukun­ftsszenar­ien, auf die die Men­schen eher mit Abnei­gung oder Vorurteilen blick­en. Und das ist eine große Her­aus­forderung sicher­lich. Also ich glaube, dass wir Instru­mente und Meth­o­d­en haben, um auch kün­ftige Her­aus­forderun­gen zu bewälti­gen. Was uns ein biss­chen ver­loren gegan­gen zu sein scheint, ist so ein gemein­sames Nar­ra­tiv, ein gemein­sames Pro­jekt, das wir entwick­eln. Nehmen wir zum Beispiel mal die derzeit­ige Krisen­lage: Es gibt aktuell über 40 bewaffnete Kon­flik­te in der Welt, größere und kleinere. Es gibt natür­lich das The­ma Flucht, Asyl, Inte­gra­tion, was den Men­schen schw­er auf dem Herzen liegt, aber auch der demografis­che Wan­del. Der dro­hende Kli­mawan­del ist ein großes The­ma und ich habe manch­mal das Gefühl, dass die Men­schen, aber auch der medi­ale Diskurs, da so ein biss­chen die Waf­fen streckt und sagt: Ach, wie wollen wir bloß mit diesen ganzen Her­aus­forderun­gen klarkom­men?

Es zeigt sich in den Herausforderungen, die wir auf europäischer Ebene hatten in zurückliegenden Jahren, dass, wo die Nationalstaaten ihre eigenen Interessen so vorausgestellt haben, hat es meistens Probleme gegeben.

Dr. Daniel Treps­dorf

Und das ist an sich eine undemokratis­che Hal­tung, denn wenn man sich mal mit den Großel­tern unter­hält: Her­aus­forderun­gen mussten immer schon bewältigt wer­den. Die Frage ist, welche Zugänge entwick­eln wir dazu, um dieses Pro­jekt als gemein­sames Nar­ra­tiv anzuerken­nen. Da set­zen dann Par­tiku­lar­in­ter­essen ein, mein­er Mei­n­ung nach ins­beson­dere vor dem Hin­ter­grund der europäis­chen Sit­u­a­tion. Wir haben ja nicht nur Kom­mu­nal­wahlen im Juni, son­dern auch Europawahlen. Ich finde, dass sich die Men­schen sehr viel mehr dafür inter­essieren soll­ten, wie wir in den Regio­nen das große Haus Europa kon­struk­tiv weit­er­en­twick­eln kön­nen. Es zeigt sich in den Her­aus­forderun­gen, die wir auf europäis­ch­er Ebene hat­ten in zurück­liegen­den Jahren, dass, wo die Nation­al­staat­en ihre eige­nen Inter­essen so voraus­gestellt haben, hat es meis­tens Prob­leme gegeben. Um das also noch mal abzuschließen: Es braucht ein gemein­sames Nar­ra­tiv, einen gemein­samen Nen­ner, um Her­aus­forderun­gen kon­struk­tiv anzuge­hen, und ich glaube, da haben wir ganz gute Optio­nen, das Wort voranzubrin­gen.

Es ist so ähnlich wie mit dem Noten-Lernen: Es ist erstmal anstrengend

Wie bekomme ich die Leute denn dazu, sich motiviert und mehr auseinan­derzuset­zen?

Also ins­beson­dere dadurch, dass man sie beizeit­en schon an diese Auseinan­der­set­zung her­an­führt und ver­mit­telt, dass es viel Freude machen kann.  Klar, es ist umfan­gre­ich, ver­schiedene Parteipro­gramme durchzuge­hen, aber wenn ich es ein­mal gewöh­nt bin und wenn ich weiß, dass es natür­lich auch eine sehr große Freude ist, sich sou­verän in ein­er demokratis­chen Gesellschaft zu bewe­gen, dann ist das natür­lich auch ein großer Moti­va­tions­fak­tor.

Es ist so ähn­lich wie mit dem Noten-Ler­nen: Es ist erst­mal anstren­gend, aber wenn ich dann die ersten Songs spie­len kann, dann bere­it­et es mir auch enorm viel Freude und so ist es mit der poli­tis­chen Bil­dung ganz ähn­lich. Ich finde im Demokratis­chen den englis­chen Begriff dies­bezüglich auch fast noch tre­f­fend­er als „poli­tis­che Bil­dung“. Hier heißt es „edu­ca­tion for demo­c­ra­t­ic cit­i­zen­ship“ – also eigentlich die Bil­dung, um sich über­haupt als selb­stver­ant­wortlich­es Sub­jekt in der Gesellschaft bewe­gen zu kön­nen. Und das braucht man. Nie­mand set­zt sich ein­fach so ins Auto, son­dern muss auch ler­nen, wie man es bedi­ent. Und genau­so ist es natür­lich auch mit der demokratis­chen Gesellschaft. Wir brauchen ein paar Fer­tigkeit­en, oder wie Oskar Negt gesagt hat: „Demokratie ist die einzige Gesellschaft, die man ler­nen muss, damit wir uns sou­verän in dieser bewe­gen.“ Diese Lern­prozesse müssen wir antrig­gern. Da müssen wir eigentlich in der Kita schon anfan­gen, in der Schule, und dann brin­gen wir das auch ganz gut durch. Inter­es­san­ter­weise ver­suchen wir das ja ganz nieder­schwellig, indem wir zum Beispiel mit Schülern und Jugendlichen eigene Filmthe­men umset­zen – ob das Mob­bing ist, ob das das Älter­w­er­den ist, ob das nun Kon­flik­te inner­halb von Schule und Sportvere­inen sind. Da merken die Men­schen sehr schnell, das macht Freude, es kann eine freud­volle Geschichte sein, und deswe­gen soll­ten wir die Flinte nicht ins Korn wer­fen.

Wird der Demokratiebe­griff heute in mancher­lei Hin­sicht miss­braucht? Also wer­den vielle­icht manche Dinge durchge­set­zt, ich sag mal, unter dem Deck­man­tel der Demokratie?

Auf jeden Fall. Ins­beson­dere wenn wir davon aus­ge­hen, dass gute demokratis­che Entschei­dun­gen nur getrof­fen wer­den, wenn Men­schen nicht mit Angst agieren. Ich habe das Gefühl, dass ins­beson­dere von Pop­ulistin­nen und Pop­ulis­ten heutzu­tage so ein Drohszenario aufge­baut wird. Und der Volksmund sagt ja schon: Angst ist kein guter Rat­ge­ber.

Das ist auch demokratisch nicht gut, weil man so nur zu wahren ver­sucht, was man zu besitzen glaubt. Ich glaube, die Her­aus­forderung ist ein Sol­i­dar­ität­sprinzip bei guten demokratis­chen Entschei­dun­gen, auch inter­gen­er­a­tiv. Also man muss die älteren Semes­ter grund­sät­zlich und für ihre Lebensleis­tung wertschätzen. Man darf aber auch nicht auf Kosten der jün­geren Gen­er­a­tion Zukun­ft­sop­tio­nen ver­bauen. Han­nah Arendt hat mal gesagt, und das finde ich eigentlich tre­f­fend: „Eine gute demokratis­che Entschei­dung ist eine Entschei­dung, die die Hand­lungsmöglichkeit­en der Men­schen erweit­ert und nicht ein­schränkt.“ Heute ist alles so zuge­spitzt, dass Men­schen das Gefühl haben, sich in ein­er Dilem­m­a­sit­u­a­tion zu befind­en und sich zwis­chen Schwarz und Weiß entschei­den zu müssen, zwis­chen Gut und Böse. Die meis­ten Entschei­dun­gen oder Sit­u­a­tio­nen, auf die wir tre­f­fen im Leben, sind aber sehr viel kom­plex­er­er Natur, und es gibt immer mehrere Möglichkeit­en. Deswe­gen ist es wichtig, sich selb­st immer fol­gen­des zu fra­gen: Wenn ich mit anderen gemein­sam eine Entschei­dung umzuset­zen ver­suche, erweit­ere ich dann die Hand­lungsmöglichkeit­en meines Gegenübers und damit auch eines Teams oder ein­er Sozial­for­ma­tion, ein­er Stadt­ge­sellschaft? Oder schränke ich diese ein?

Man kann also sagen: Gesellschaften, die sich entschei­den, ihre Entschei­dungs­ba­sis zu erweit­ern, sind gute und emokratisch aufgestellte Gesellschaften.

Eine rechtskonservative Position nicht per se eine schlechte Position

Es lässt sich in Zahlen able­sen, dass die Gesellschaft sich mehr und mehr auch recht­sori­en­tierten Parteien oder ein­er radikalen Betra­ch­tung zuwen­det, statt sich tiefer­ge­hend auseinan­derzuset­zen. Woher kommt diese Demokratiever­drossen­heit?

Also ich find es erst­mal ganz wichtig anzuerken­nen, dass eine recht­skon­ser­v­a­tive Posi­tion nicht per se eine schlechte Posi­tion ist – genau­so eine pro­gres­siv linke Posi­tion nicht automa­tisch eine pos­i­tive Option ist.  Ich finde es ganz, ganz wichtig, dass im demokratis­chen Spek­trum all diese Posi­tio­nen halt auch einen pos­i­tiv­en Echoraum find­en und sich das Ganze nicht wie oft­mals in den sozialen Net­zw­erken zu einem Echobunker entwick­elt, wo ich nur noch streng fil­tere, was mein­er eige­nen Posi­tion entspricht.  Und ich glaube, da haben wir eine große Her­aus­forderung zu bewälti­gen, dass wir genau diese Posi­tio­nen auch mit in den Blick nehmen, um Entschei­dun­gen tre­f­fen zu kön­nen. Wir brauchen die bei­de Posi­tio­nen halt, son­st wäre es auch keine vernün­ftige Wet­tbe­werb­ssi­t­u­a­tion.

Son­st wür­den wir tat­säch­lich jed­er für sich blind im Wald herum­laufen und einige Male mit dem Kopf gegen Bäume stoßen. In der Poli­tik sprechen wir von soge­nan­nter Ambi­gu­i­tät­stol­er­anz – ein schwieriges Wort, aber das heißt nichts anderes als: Wir müssen ler­nen, Wider­sprüche auszuhal­ten. Und ich glaube, da gibt es ins­beson­dere durch das Inter­net und die sozialen Net­zw­erke ein Defiz­it, weil wir uns nicht mehr damit auseinan­der­set­zen, dass es auch andere Posi­tio­nen gibt.

Es ist zum Beispiel eine gute Schule, wenn man sich mit Kindern auseinan­der­set­zt und demokratis­che Entschei­dun­gen zum Beispiel bei der Urlaub­s­pla­nung oder im All­t­ag erk­lärt. Es ist sehr viel leichter, autoritär etwas aus ein­er Macht­po­si­tion her­aus durchzuset­zen. Aber ein gutes Ver­hält­nis zur Macht­po­si­tion zu haben und zu sagen: Hey, ich will mir deine Mei­n­ung trotz­dem anhören – das ist eine gute Prax­is im All­t­ag, sich auch auf das gute Argu­ment zu beziehen.

Aber es sollte keine Toleranz geben gegenüber den Intoleranten!

Ich habe die ganze Zeit eine Frage im Kopf: Darf Demokratie aus­gren­zen?

Ja. Darf sie. Das klingt jet­zt erst­mal hart, aber es ist ganz wichtig, dass Demokratie auch aus­gren­zend wirkt. Karl Pop­per hat das Tol­er­anz­para­dox­on beschrieben: Er sagt, Tol­er­anz ist eine gute Sache und es ist wichtig, dass ich anderen mit Respekt begeg­ne, ihnen Selb­st­wert und die Steigerung des Selb­st­wert­ge­fühls zubil­lige. Aber es sollte keine Tol­er­anz geben gegenüber den Intol­er­an­ten! Also wenn jemand zum Beispiel einen Anschlag auf die Gesellschaft, auf die Sozial­for­ma­tion, auf unseren Wertekanon verüben möchte, indem er die Gesellschaft weg­wis­chen will. Dann ist es schlicht und ergreifend klar, da darf es keine Tol­er­anz geben. Diese Gren­ze zwis­chen Min­der­heit­en­schutz und Mehrheits­dom­i­nanz, zwis­chen Mach­tausübung und Machtver­fü­gung ist wichtig.

Da muss immer wieder neu disku­tiert wer­den kön­nen, jen­seits der 20 Grundge­set­zartikel mit Ewigkeit­sklausel, die zurecht ja die Ewigkeit­sklausel haben. Oder der 30 Artikel der all­ge­meinen Erk­lärung der Men­schen­rechte. Es ist ganz wichtig, dass man in diesen Bah­nen auch miteinan­der darüber spricht. Denn wo Dia­log und ver­trauensvoller Aus­tausch nicht mehr möglich sind, da wird es auch rel­a­tiv schw­er, den Tol­er­anzbe­griff vom Tages­geschehen her neu zu bew­erten und men­schen­würdig einzuset­zen.

An welchen Stellen ist Schw­erin aus­re­ichend demokratisch und wo wür­den Sie sagen, kön­nte doch dur­chaus ein neues, verbessertes Demokratiev­er­ständ­nis wieder Einzug hal­ten?

Also ich bin ja sowohl beru­flich als auch ehre­namtlich in unter­schiedlichen Vere­inen und Ver­bän­den unter­wegs und sagen: Grund­sät­zlich müssen wir uns da keine Sorge machen. Wir haben eine ziem­lich bre­it aufgestellte Medi­en­land­schaft, was ganz wichtig als vierte Gewalt ist, sodass sich Schw­er­iner­in­nen und Schw­er­iner auch sehr mul­ti­per­spek­tivisch Wis­sen aneignen kön­nen. Dazu glaube ich, dass wir trotz einiger Her­aus­forderun­gen, auch über die Stadt­teil­gren­zen hin­aus, ein gutes Gefühl haben in der Lan­deshaupt­stadt. Nichts­destoweniger gibt es ein paar Her­aus­forderun­gen, die so Kipp­punk­te sein kön­nen: Wir haben rel­a­tiv viele Men­schen, die suchtkrank sind. Wir sind auf Platz 1 in MV und auf Platz 2 bun­desweit gese­hen.

„Wir wollen etwas kaputt machen”

Soziale Seg­re­ga­tion spielt natür­lich nach wie vor eine große Rolle in der Lan­deshaupt­stadt. Ich glaube, da muss man entschei­dend ent­ge­gen­wirken. Par­tizipa­tion als entschei­den­des Merk­mal für demokratis­che Entschei­dungs­find­ung spielt eine ganz große Rolle. Das heißt also, dass Men­schen auch mit schwieri­gen sozialen Rah­menbe­din­gun­gen an demokratis­che Entschei­dun­gen herange­führt wer­den und in die Lage ver­set­zt wer­den, ihre eige­nen Posi­tio­nen im demokratis­chen Parteien­spek­trum wiederzufind­en. Denn wo das nicht gelingt, kom­men Men­schen in eine kindis­che Hal­tung, indem sie sagen: „Wir wollen etwas kaputt machen. Wir haben zwar keine Lösung für die Her­aus­forderun­gen, die die Gesellschaft hat, aber wir machen etwas kaputt.“ Das wäre es auf jeden Fall undemokratisch und ist zu ver­hin­dern. Also die Frage, wie wir Men­schen dazu führen kön­nen, sich gemein­sam an den Tisch zu set­zen und unter Wahrung von rechtsstaatlichen Kri­te­rien zusam­men an ein­er Erzäh­lung zu arbeit­en, die möglichst viele Men­schen in die Lage ver­set­zt, eine gute Entschei­dung zu tre­f­fen – das ist nach wie vor eine Her­aus­forderung, da dür­fen wir nicht nach­lassen.

Aber ich bin auch dage­gen, jet­zt auch alles schwarz­ma­lerisch sehen. Wenn man mal zurück­blickt, dann gab es in der deutschen Geschichte eine ganze Menge Her­aus­forderun­gen, die wir auch bewältigt haben und die wir gut bewältigt haben. Und zur guten Demokratie gehört auch immer ein biss­chen Enthu­si­as­mus und eine pos­i­tive Zukun­ft­saus­sicht, dass nicht alles in der Schwärze in der Neme­sis versinkt. Und da bin ich – auch nach vielem Gesprächen mit Schw­er­iner­in­nen und Schw­er­inern – doch guter Dinge, dass wir das auf die Rei­he bekom­men.

Sie haben ein Zitat mit­ge­bracht aus einem Buch, das sie geschrieben haben – „Auf­s­tand der Umlaute“. Vielle­icht kön­nen Sie daraus ein Schlussplä­doy­er für die Demokratie ableit­en?

Dazu muss ich erst etwas zu Entste­hung des Buch­es und den Kon­text sagen. Da geht es eigentlich um die Behand­lung von Kon­flik­ten. Und in dem Buch „Auf­s­tand der Umlaute“ ersteigt sozusagen ein neg­a­tives Gefühl daraus, dass ins­beson­dere die Umlaute und das „ß” sich nicht wahrgenom­men fühlen, sich nicht gese­hen fühlen im Alpha­bet. Wenn man die meis­ten Men­schen fragt, wie viele Buch­staben das Alpha­bet hat, wer­den die meis­ten mit „26“ antworten. Das ß, ö, ä und ü sind halt außen vor. In mein­er Geschichte leben die auch ganz unten im Haus der Sprache, im Keller, nicht so schön und repräsen­ta­tiv wie die Vokale. Wenn man da ins Zim­mer kommt, find­et man die getäfelte Decke, wun­der­bare Aus­blicke und sagt gle­ich a und o, u – wun­der­bar. Und wenn man zu den Umlaut­en kommt, dann sind da Spin­nweben und da tropft das Wass­er von der Kellerdecke, die fühlen sich da extrem aus­ge­gren­zt. Und wenn die LKW kom­men in der Geschichte, um die Buch­staben für unsere Sprache und unsere Lieder abzu­holen, dann wer­den die Umlaute und das ß extrem wenig abge­fragt. Irgend­wann entschei­den die sich dann, die anderen Buch­staben vor die Höh­le der Sprachlosigkeit zu schaf­fen und sie von ein­er Hänge­brücke stürzen zu lassen. Und da tritt natür­lich das absolute Chaos ein!

Anhand dieser Geschichte kön­nen wir Kindern mit­teilen, dass es wichtig ist, dass jed­er einzelne Buch­stabe und jedes einzelne Indi­vidu­um die Chance erhält, gehört zu wer­den. Und ich hab mich dazu mit Schülern und Lehrern auseinan­der geset­zt, die mich gefragt haben: „Sagen Sie doch mal in zwei, drei Sätzen, was denn Demokratie eigentlich ist!“ Und zu dem Schluss bin ich gekom­men:

„Demokratie entste­ht dort, wo Men­schen sich mit Wertschätzung begeg­nen, wo sie ohne Furcht vor Benachteili­gung freie Entschei­dun­gen tre­f­fen kön­nen. Demokratis­che Räume sind also Lern- und Leben­sräume, die die Bedürfnisse, Eige­narten und Rechte des Gegenübers im Blick behal­ten, als demokratisch gel­ten ergo gesellschaftliche Beziehungs­ge­füge, bei denen Indi­viduen selb­st­wirk­sam, emanzip­iert und akzep­tiert, miteinan­der und füreinan­der Ver­ant­wor­tung übernehmen.“  Der Punkt „Ver­ant­wor­tung“ ist dabei ganz wichtig. Demokratie ist keine Ser­vicev­er­anstal­tung. Ich kann nicht immer nur andere ver­ant­wortlich dafür machen, welche Her­aus­forderun­gen es zu bewälti­gen gibt, son­dern ich muss auch guck­en und mich selb­stkri­tisch fra­gen, was kann mein Beitrag für diese Gesellschaft sein – schon im Kleinen, in der Nach­barschaft, im wech­sel­seit­i­gen Miteinan­der, bei der Unter­stützung, im Einkauf, im Super­markt oder wenn ich auf der Straße Men­schen begeg­ne.

Indem ich nicht ver­suche, sie zu bevor­munden, son­dern indem ich Selb­stver­ant­wor­tung übernehme und mich selb­st kon­struk­tiv in die Gesellschaft ein­bringe. Das ist, glaube ich, ein wesentlich­es Ele­ment, und das muss man beizeit­en ler­nen, denn was Hän­schen nicht lernt – da hat der Volksmund recht – das lernt auch Hans nim­mer­mehr.  Wir soll­ten diese Begeg­nungsräume wech­sel­seit­iger Ver­ant­wor­tungsüber­nahme und auch der eige­nen Ver­ant­wor­tungsüber­nahme sehr viel stärk­er machen, um möglichst vie­len Men­schen ein Höch­st­maß an Entschei­dung­sop­tio­nen zu ermöglichen. Denn wenn ich diese Entschei­dung­sop­tion wahrnehme und lerne, dass ich auch selb­stver­ant­wortet gemein­sam mit anderen sol­i­darisch eine Gesellschaft gestal­ten kann, dann haben wir auch kein Prob­lem mit Extrem­is­mus.