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„Der Erfolg von Gerd bleibt in nachhaltiger Erinnerung“

Fast vier Jahrzehnte ist es her: Moskau 1980. 1.August. Olympia-Finale im Hochsprung der Herren im Zentralen Leninstadion. Die Latte lag bei 2,36 Meter. Seinerzeit Weltrekord. Und ein Athlet des SC

  • Veröffentlicht Juli 11, 2019
Am kommenden Dienstag wird Gerd Wessig 60 Jahr alt Foto: Marko Michels

Fast vier Jahrzehnte ist es her: Moskau 1980. 1.August. Olympia-Finale im Hochsprung der Herren im Zentralen Leninstadion. Die Latte lag bei 2,36 Meter. Seinerzeit Weltrekord. Und ein Athlet des SC Traktor Schwerin meisterte diese Höhe: Gerd Wessig, der am  16. Juli 60 Jahre alt wird.

Damals setzte er sich gegen den Olympiasieger von 1976, Jacek Wszola aus Polen, seine Team-Kameraden Jörg Freimuth (ASK Vorwärts Potsdam) bzw. Henry Lauterbach (SC Turbine Erfurt), den Schweizer Roland Dahlhäuser und auch den Lokalmatadoren, die sowjetische Troika Alexander Grigorjew, Gennadi Belkow bzw. Alexej Demjanjuk, durch.

Gerd Wessig war und ist zugleich der erste Hochsprung-Olympiasieger, dem sein Erfolg unter den olympischen Ringen mit Weltrekord gelang. Welche Bedeutung und welchen Stellenwert hat der Erfolg von Gerd Wessig noch heute? Nachgefragt bei Andreas Bluhm, Präsident des Landessportbundes M-V, und bei Dirk Pollakowski, Geschäftsführer des Stadtsportbundes Schwerin

Frage: Herr Pollakowski, Sie waren damals gerade einmal 10 Jahre alt fünf Jahre jünger wie Gerd Wessig. Waren Sie Ende der 1970er schon so sportbegeistert, dass Sie die sportliche Karriere von Gerd Wessig verfolgten?

Andreas Bluhm: Bis 1977 war ich selber Leichtathlet und musste dann leider aus gesundheitlichen Gründen aufhören. Aber dem Sport bin ich stets treu geblieben und so war es selbstverständlich, so oft es eben ging, bei den verschiedensten Sportveranstaltungen mit zu fiebern. Auch vor dem Fernseher und bei Athletinnen bzw. Athleten aus Schwerin ganz besonders. Aber es war für mich schon eine riesige Überraschung, dass Gerd Wessig den Olympiasieg von Moskau holte und zugleich noch einen neuen Weltrekord aufstellte. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Dirk Pollakowski: Ich bin seit 1978 Leichtathlet. Wenn ich zu dem Zeitpunkt geahnt hätte, dass ich sieben Jahre später selbst beim SC Traktor Schwerin trainieren würde, hätte ich seine Karriere mit Sicherheit schon damals intensiver verfolgt. Ich lebte aber damals noch in meiner Heimatstadt Brandenburg an der Havel und habe daher eher auf die Sportler des damaligen Bezirkes Potsdam geschaut.

Frage: In den 1970ern und 1980ern hatte der Sport in Ost und West noch eine andere, vor allem politische Rolle. Bei olympischen Übertragungen saßen ganze Familien „nonstop“ vor der Flimmerkiste. War es im Hause Bluhm und Pollakowski 1980 ähnlich? An welche Highlights der Spiele 1980 in Moskau erinnern Sie sich noch nachhaltig?

Andreas Bluhm: Im Sommer 1980 wohnten wir in einer Ein-Raum-Wohnung auf dem Großen Dreesch in Schwerin, unser Sohn war zwei Jahre und meine Frau im siebenten Monat schwanger. Es war sehr eng in der Wohnung und der Fernseher war ein kleiner der Marke “Junost”. Aber er lief und oft auch ganz leise hinter dem Küchenvorhang.

Erinnern kann ich mich neben dem Maskottchen “Mischka” noch gut an den Marathon-Sieg von Waldemar Cierpinski mit dem berühmten Kommentar von Heinz Florian Oertel, das spannende Handball-Finale zwischen der UdSSR und der DDR mit dem 22:23-Sieg für unsere Mannschaft und die beeindruckenden Leistungen der Ruderer.

Dirk Pollakowski: Die Sportbegeisterung war auch in meinem Elternhaus sehr groß! Dem „Bann“ Olympia kann man sich gerade als junger Sportler nur sehr schwer entziehen. Auch wenn es sehr lange her ist und ich noch recht jung war, erinnere ich mich doch noch an einige Höhepunkte. Unvergessen bleibt der Marathon-Olympiasieg von Waldemar Cierpinski – auch durch den legendären Fernsehkommentar von Heinz Florian Oertel. Der Olympiasieg der ebenfalls in Brandenburg geborenen Kanutin Birgit Fischer, der Zehnkampf des Briten Daley Thompson und natürlich auch der Erfolg von Gerd bleiben in nachhaltiger Erinnerung.

Frage: Der Hochsprung-Sieg von Gerd Wessig mit Weltrekord war eine der großen Überraschungen der Spiele in Moskau. Was zeichnete Gerd Wessig als Sportler – aus Ihrer Sicht – aus?

Andreas Bluhm: Nach meiner Erinnerung war er schon damals ein sehr fleißiger und zielstrebiger, freundlicher und bescheidener Mensch. Dieser ist er auch nach dem Olympiasieg geblieben und das brachte ihm stets viel Sympathie und Anerkennung ein.

Dirk Pollakowski: Vermutlich das Gleiche, das ihn heute als Trainer auszeichnet, seine Zielstrebigkeit und Akribie. Auch wenn wir im gleichen Sportclub trainierten, lernte ich ihn erst viele Jahre später richtig kennen. Uns trennen über 10 Jahre und ich habe in einer anderen Disziplin trainiert. Heute sind wir ehrenamtlich Trainerkollegen beim SSC. Gerd trainiert die Hochspringer und ich versuche mein Wissen an die Jungen der Klassenstufe drei und vier weiterzugeben.

Frage: Dass es nach der Wende bis zum heutigen Tag mit der Leichtathletik in Schwerin weiter ging, ist nicht nur, aber auch dem Engagement von Gerd Wessig zu verdanken, der jahrelang als Abteilungsleiter Leichtathletik des SSC fungierte. Wie bewerten Sie dessen Engagement?

Andreas Bluhm: Gerd Wessig hat seit den 1980ern  bis heute ein herausragendes Engagement bei der Gestaltung und Entwicklung der Abteilung Leichtathletik des Schweriner SC bewiesen. Unermüdlich und in der ihm eigenen Art hat er sich für die Sicherung der Rahmenbedingungen für den Trainings- und Wettkampfbetrieb eingesetzt, viele Gespräche mit Athletinnen und Athleten, deren Eltern, mit Trainern und Übungsleitern geführt, seine Erfahrungen in die Waagschale geworfen und sie weitergeben. Er hat mit anderen gemeinsam nach Partnern und Sponsoren für die Förderung der Leichtathletik in Schwerin gesucht und sie mit seiner Sportlerpersönlichkeit auch gefunden. Der Jedermann-Zehnkampf ist dafür ein gutes Beispiel. …Dass die Schweriner Leichtathletik einen hohen Stellenwert im Landesverband und im Landessportbund hat, ist auch ein Verdienst von Gerd Wessig.

Dirk Pollakowski: Dass es mit der Schweriner Leichtathletik unmittelbar  nach der Wende erfolgreich weiter ging, ist „Leichtathletik-Verrückten“ wie Hans Janzon, Detlef Schulz, Manfred Sens, Achim Poscher, Jürgen Flehr und einigen anderen zu verdanken! Gerd engagiert sich zudem seit dem Jahr 2000 ehrenamtlich mit viel Herzblut für die Leichtathletik. Ich ziehe den sprichwörtlichen Hut vor allen, die sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich engagieren, sei es im Sport, in der Kunst, der Kultur oder auch in anderen Bereichen des Gemeinwohls! Ehrenamtlich bedeutet freiwillig und unentgeltlich! Hin und wieder muss man das mal erwähnen, da das einige Leute augenscheinlich zu vergessen scheinen.

Frage: Wie steht es – subjektiv betrachtet – um die Leichtathletik in M-V, speziell in Schwerin, aktuell?

Andreas Bluhm: Nicht zuletzt die Gespräche mit dem DLV und DOSB zur Entwicklung der Leichtathletik in MV haben deutlich gemacht, dass es um den Nachwuchsleistungssport im Lande gut aussieht. Auf der stabilen Basis von LVMV-Trainingsstützpunkten und den drei Leistungszentren Neubrandenburg, Rostock und Schwerin wird von vielen Trainern und Übungsleitern eine erfolgreiche Arbeit geleistet, die Früchte trägt. Viele Talente in den verschiedenen Disziplinen werden entdeckt und gefördert. Bei nationalen und internationalen Wettkämpfen gelingen immer wieder gute Leistungen . So wird es hoffentlich auch gelingen, den Bundesstützpunkt über das Jahr 2020 hinaus zu sichern.

Dirk Pollakowski: Ich meine persönlich, dass es um die Leichtathletik in M-V und speziell in Schwerin nicht schlecht steht. Leider gibt es aber Faktoren, die uns generell im Sport im Nordosten der Bundesrepublik nicht wirklich in die Lage versetzen, an die Erfolge der „guten alten Zeiten“ anzuknüpfen!

 

Wie verlief eigentlich der olympische Wettkampf am 1.August 1980 in Moskau aus Sicht von Gerd Wessig?

 

Dazu Gerd Wessig: „…Die ersten Gratulanten, noch im Stadion, waren die Teamkollegen Henry Lauterbach und Jörg Freimuth. Auch der Schweizer Roland Dahlhäuser beglückwünschte mich unmittelbar nach dem Erfolg. Nur Jacek Wszola (1976 Hochsprung-Olympiasieger. – Anm. M.M.) ließ sich etwas mehr Zeit: Er war der Letzte, der mir gratulierte. Aber mittlerweile sind wir gute Kumpel ! Bei ihm ging es wohl schon damals um viel Geld, bei mir „nur“ um „Volk und Vaterland“. Allerdings gab es damals noch eine größere Identifikation mit dem Team, mit dem Erfolg als es heute oftmals üblich ist.

Zum olympischen Wettkampf 1980: Ich hatte mich Stück für Stück in den Wettkampf hinein getastet, wollte unter die besten Sechs. Das war auch die offizielle Zielvorgabe und diesen leistungsmäßigen Druck hatte man dann auch schon. Das Ziel stand, wer darunter blieb, hatte versagt. Irgendwelche Ausflüchte wurden nicht akzeptiert, nach der Devise in etwa, dass die Zuschauer so laut, die Stimmung nicht gut und die Bedingung nicht optimal seien, waren verpönt. Wer die Ziele nicht erreichte, musste sich auch wieder hinten anstellen. Auch große Namen galten nichts. Das mußten seinerzeit Rosemarie Ackermann (Hochsprung), Wolfgang Schmidt (Diskuswerfen) oder Udo Beyer (Kugelstoßen) erfahren.

Aber ich blieb in der Zielvorgabe. Als feststand, dass ich sicher auf Rang sechs lag, war ich erst einmal erleichtert. 2,24 Meter, die Konkurrenz war nicht weg und die Höhe war für mich nur eine Durchgangsleistung, für mich keine Hürde. Und ich merkte Höhe um Höhe, eine Medaille könnte durchaus drin sein, zumal die Mannschaftskameraden Henry Lauterbach und Jörg Freimuth noch immer dabei waren.

Und ich dachte mir: Die hatten doch die ganze Saison gegen dich nichts zu bestellen gehabt und jetzt wollen sie dich schlagen ?! Das geht schon einmal gar nicht ! Dann war ich schon unter den besten Vier und auch Jörg Freimuth war auch noch dabei. Ich wusste nun, eine Medaille ist in Reichweite. Dann plötzlich, bei der Höhe von 2,33 Meter, als die anderen rissen, war ich nicht mehr Dritter, sondern Erster – und ich schaffte sogar noch die 2,36 Meter. In diesem Moment war ich wohl der glücklichste Mensch auf der Welt !“

Zur Info: Die Olympischen Spiele 1980 in Moskau reihe sich in die Reihe in die Spiele jener Zeit ein, die von Terror und politischen Boykott-Maßnahmen betroffen waren. 1972 überschattete der blutige Terror-Anschlag gegen die israelische Olympia-Mannschaft die Spiele 1972 in München. Und ab 1976 bis 1988 folgte ein Boykott nach dem anderen: 1976 in Montreal fehlten fast alle afrikanischen Staaten, 1980 in Moskau nahmen viele Länder des Westblocks bzw. die VR China nicht teil, 1984 in Los Angeles waren viele Ostblock-Staaten, wie die UdSSR, die DDR oder Bulgarien, nicht dabei und 1988 in Seoul gab es den „kleinen Boykott“ durch Kuba, Äthiopien, Nordkorea, Nikaragua und Kampuchea. Erst 1992 in Barcelona sollten wieder terror- und boykottfreie Olympische Spiele stattfinden.

1980 gab es „Ersatz-Wettkämpfe“, unter anderem die „Liberty Bell Classic“ in Philadelphia in der Leichtathletik, ähnlich wie dann auch 1984 die „Wettkämpfe der Freundschaft“, die dezentral in neun Ländern des real existierenden Sozialismus stattfanden. Ein wirklicher „Ersatz“ waren diese Wettkämpfe jedoch nicht. Viele Athletinnen und Athleten, die nicht an den echten Spielen teilnehmen durften, verzichteten auch auf diese „Events.“

Ein erneuter großer Boykott 1988 in Seoul hätte mit Sicherheit das Ende der Olympischen Spiele bedeutet, zumindest eine Spaltung der olympischen Bewegung zur Folge gehabt.

Übrigens: Neun Olympiasiegerinnen und Olympiasieger, die entweder in Schwerin geboren wurden oder einen Schweriner Verein angehörten, kann die Landeshauptstadt M-V vorweisen:

So im Boxsport Jochen Bachfeld (1976), Andreas Zülow (1988) bzw. Andreas Tews (1992), in der Leichtathletik Gerd Wessig (1980) bzw. Jürgen Schult (1988), im Schwimmen Andrea Pollack (1976, 1980), im Rudersport Michael Wolfgramm (1976), im Bahn-Radsport Stefan Nimke (2004) und im Kanu-Rennsport Peter Kretschmer (2012). Dazu kommen noch die Paralympics-Siegerinnen Ramona Brussig (2004, 2012) bzw. Carmen Brussig (2012) im Judo und Vanessa Low (2016) in der Leichtathletik.

 

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p style=“text-align: right;“>Dr. Marko Michels

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