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Schwerin gestern: Honeckers letzter Auftritt in Schwerin war ein Drehbuch des Triumphalismus

(Dr. Renate Krüger). In den Bestän­den des ehe­ma­li­gen SED-Bezirksparteiarchivs Schw­erin (Jugend und Sport IVE‑2/16/ 2 393) wird ein Doku­ment auf­be­wahrt, das einen umfassenden Blick hin­ter die Kulis­sen der dama­li­gen Macht­struk­turen

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  • Veröffentlicht Juli 3, 2013

Erich Honnecker(Dr. Renate Krüger). In den Bestän­den des ehe­ma­li­gen SED-Bezirksparteiarchivs Schw­erin (Jugend und Sport IVE‑2/16/ 2 393) wird ein Doku­ment auf­be­wahrt, das einen umfassenden Blick hin­ter die Kulis­sen der dama­li­gen Macht­struk­turen erlaubt. Es han­delt sich um den „Plan für die Begrüßung und Stadtbesich­ti­gung des Gen­er­alsekretärs des ZK der SED und Vor­sitzen­den des Staat­srates der SED, Genossen Erich Honeck­er, und des Mit­gliedes des Polit­büros und Sekretär des ZK der SED, Genossen Gün­ter Mit­tag, am 20.5.1987“, um ein detail­liertes Drehbuch, nach dem dieser Besuch abzu­laufen hat­te. Anlass war der XIII. Bauernkongress, der in Schw­erin ver­anstal­tet wurde.

Die erste Begrüßung fand vor der Gast­stätte „Mueßer Bucht“ an der Schw­er­iner Stadt­gren­ze statt und war umrahmt von etwa 4500 Bürg­ern aus der Stadt Schw­erin, 750 Bürg­ern des Land­kreis­es Schw­erin, 150 Bür-gern aus dem Kreis Parchim, 80 Bürg­ern aus dem Kreis Güstrow und 40 Bürg­ern aus dem Kreis Lübz. Weit über 5000 Bürg­er mussten sich also im Umkreis der Mueßer Bucht ver­sam­meln, aus­ges­tat­tet mit „Bildern des Gen­er­alsekretärs, Blu­men, Fäh­nchen und Wink­tüch­ern, Trans­par­enten mit per­sön­lichen Beken­nt­nis­sen zur Poli­tik der Partei- und Staats­führung sowie ihrem per­sön­lichen Beitrag zur all­seit­i­gen Stärkung des Sozial­is­mus und zur Sicherung des Friedens.“ Zur optis­chen Huldigung kam die akustis­che: Hochrufe auf den Genossen Honeck­er und das Lied „Hoch soll er leben!“ Ange­führt wur­den diese Heer­scharen vom 1.Sekretär der Bezirk­sleitung, Genosse Heinz Zieg­n­er, Mit­glied des ZK, und den weit­eren Repräsen­tan-ten des Bezirkes und der Stadt – dem Genossen Erich Postler, Mit­glied des ZK und 2.Sekretär der Bezirk­sleitung, dem Genossen Rudi Fleck, Mit­glied des Sekre­tari­ats der Bezirk­sleitung und 1.Sekretär der Kreisleitung Schw­erin Stadt, dem Genossen Hel­mut Oder, Mit­glied des Sekre­tari­ats der Kreisleitung und Oberbürgermeis¬ter, dem „Fre­und“ OMR Dr. Fuchs, Vor-sitzen­den des Bezirk­sauss­chuss­es der Nationalen Front und dem „Fre­und“ OMR Dr. Müller, Vor­sitzen­den des Kreisauss­chuss­es der Nationalen Front. Als „Fre­unde“ wur­den Mit­glieder der Block­parteien und ander­er, von der SED kon­trol­liert­er Organ­i­sa­tio­nen beze­ich­net.

Zwei FDJ-lerin­nen über­re­icht­en Früh­lings­blu­men­sträuße an Genossen Erich Honeck­er und Genossen Gün­ter Mit­tag, begleit­et von den Klän­gen der Banzkow­er Blas­musik, die in Meck­len­burg­er Tra­cht­en bekan­nte Mecklen-burg­er Melo­di­en spiel­ten. Die Musik­er tru­gen Meck­len­burg­er Tra­cht­en. Das ist insofern bemerkenswert, als noch bis in die 70er Jahre meck­len­bur­gis­ches Brauch­tum als klein­bürg­er­lich und reak­tionär gegolten hat­te und ver­pönt war.

Nach ein­er kurzen Einkehr in die Gast­stätte fuhr die Autokolonne wei-ter. An der Ziolkowskistraße stand ein „kleines“ Spalier von 500 Bewohn­ern des Großen Dreeschs, dazu kamen die Schüler der anliegen­den Schulen. An der Kinderkom­bi­na­tion (Verbindung von Kinder­garten und Kinder-krippe) Ziolkowskistraße wurde ein „lautes Treiben der Kinder im Freien“ ver­anstal­tet, mit Fäh­nchen, Maigrün und Blu­men wink­te man den Gästen zu. Ähn­lich­es wieder­holte sich an der Kreuzung Kantstraße-Leni­nallee. Um Lenin zu ehren, fuhr man an seinem Denkmal beson­ders langsam vor­bei. Am Berlin­er Platz musste Honeck­er um 14:50 Uhr aussteigen und sich von etwa 5000 Bürg­ern der Stadt Schw­erin und 160 Bürg­ern aus Lud­wigslust begrüßen lassen. „Sie wer­den so ste­hen, daß der Blick auf die den Platz bes­tim­menden Gebäude und Gestal­tungse­le­mente frei bleibt. Beim Gang über den Berlin­er Platz begrüßen Bauar­beit­er des Bezirkes Schw­erin die Gäste und rech­nen ihre Verpflich­tun­gen im sozial­is­tis­chen Wet­tbe­werb ab. Sie und ihre Fam­i­lien­ange­höri­gen bedanken sich für die Ein¬heit von Wirtschafts- und Sozialpoli­tik der Partei.“

Um 15:05 stiegen Gäste und Repräsen­tan­ten des Bezirks Schw­erin unter den Klän­gen eines FDJ-Orch­esters in einen Bus und fuhren nach Schw­erin-Süd in das Led­er­waren-Kom­bi­nat, immer wieder begleit­et von Hochrufen, Winkvor­führun­gen und anderen Huldigungsbezei¬gungen. Auch sow­jetis­che Bürg­er, die an der Lud­wigslus­ter Chaussee wohn­ten, wur­den zu den Jubelchören herange­zo­gen.

Um 15:30 erwartete ein Spalier von 2000 Werk­täti­gen von der Kreuzung Höhe Polik­linik bis zum Ein­gang des Led­er­waren­werkes den Genossen Erich Honeck­er und seine Begleitung. „Drei junge Arbei­t­erin­nen, Mit­glieder der FDJ, über­re­ichen Blu­men an Genossen Honeck­er, Genossen Mit­tag und Genossen Zieg­n­er“. Dann wur­den die Gäste zu den Pro­duk­tions­bän­dern geleit­et und etliche Male begrüßt, sprachen mit Näherin­nen, mussten sich in das Brigade­buch des Kollek­tivs „Käthe Koll­witz“ ein­tra­gen und die Wet­tbe­werb­stafel in der Mon­tage­halle studieren. Als Geschenk erhiel­ten die Gäste eine Kas­sette mit Dar­legung der Entwick­lung des Stamm­be­triebes und Verpflich­tun­gen, dann durften sie durch ein Spalier von Werk¬tätigen das Led­er­waren­werk wieder ver­lassen, um ins Stadtzen­trum aufzubrechen.

An der Graf-Schack-Allee begann ein Spalier von 7000 Schw­er­iner Bürg­ern, 160 Bürg­ern aus dem Kreis Hagenow, 180 Bürg­ern aus dem Kreis Gade­busch, 80 Bürg­ern aus dem Kreis Per­leberg und 80 Bürg­ern aus dem Kreis Stern­berg. „Die Bürg­er begrüßen mit Bildern des Ge¬neralsekretärs, Wink­tüch­ern, Maigrün und Blu­men sowie mit selb­st­ge­fer­tigten Losun­gen mit per­sön­lichen Beken­nt­nis­sen die Gäste.“ Um 16 Uhr hielt der Kon­voi vor dem Haus der Bezirk­sleitung der SED in der Schlossstraße. 5000 Schw­er­iner waren zur Begrüßung aufge­boten. Für eine kurze Zeit zogen sich die Gäste in das Arbeit­sz­im­mer des 1.Sekretärs der Bezirk­sleitung zurück, danach ging es ins Stadtzen­trum, durch die Schlossstraße, Her­mann-Matern-Straße (heute Meck­len­burgstraße), Schmiedestraße auf den Markt und den Schlachter­markt. Über­all begeg­nete man Bürg­ern der Stadt, „Genossen aus Betrieben, von der BL (Bezirk­sleitung der SED), des Rates des Bezirkes, der Kreisleitung und vom Rat der Stadt, die die Gäste fre­undlich grüßen. Auf den 16 Plätzen der Moc­ca-Bar sitzen Mitar­beit­er des Rates des Bezirkes – nor­male Bedi­enung. In der Mater­n­straße vor dem Kaufhaus 6 Stände. HO-Kaufhaus Mag­net, 1 Stand Schallplat­ten. Das Sor­ti­ment ist so gewählt, daß keine Schlangen entste­hen“. Im Rathaus erläuterte um 17:45 Uhr der Ober­bürg­er­meis­ter dem Genossen Honeck­er das Stadt­mod­ell, und um 18:05 Uhr begrüßte eine „Blu­men­frau“ in Meck­len­burg­er Tra­cht die Gäste an einem Blu­men­stand auf dem Schlachter­markt. „Beim Passieren des Haus­es des Bezirks-schorn­ste­in­fegermeis­ters kommt es zu ein­er kurzen Begeg­nung mit dem Schorn­ste­in­feger, der den Genossen der Partei- und Staats­führung weit­er­hin Glück und Gesund­heit zum Wohl des Volkes wün­scht.“

An der Ecke Großer Moor spende­ten die haup­tamtlichen Mitar­beit­er der Kreisleitung den Gästen Beifall. Auf dem Großen Moor richtet schließlich noch ein Dachdeck­er­meis­ter das Wort an seinen „Kol­le­gen“ Erich Honeck­er. Dann wur­den die Gäste mit einem Hochruf ver­ab­schiedet und brachen ins Gäste­haus Franken­horst auf.

Über die Gas­tau­torin:

Dr. Renate Krüger wurde 1934 in Sprem­berg geboren. Sie ist Kun­sthis­torik­erin, Schrift­stel­lerin und Pub­lizistin . Seit 1939 wohnt sie in Schw­erin  Ab 1954 studierte Renate Krüger Kun­st­geschichte und klas­sis­chen Archäolo­gie an der Uni­ver­sität Ros­tock, kam häu­fig in Kon­fronta­tion mit dem total­itären DDR-Regime und arbeit­ete während eines vorüberge­hen­den Auss­chlusses vom Studi­um in der Ausstel­lung der von der Sow­je­tu­nion zurück über­stell­ten Dres­d­ner Gemälde in der Berlin­er Nation­al­ga­lerie. Von 1958 bis 1965 war sie am Staatlichen Muse­um Schw­erin tätig und ver­lor ihren Arbeit­splatz aus poli­tis­chen Grün­den. 1966 pro­movierte sie zum Dr.phil. an der Uni­ver­sität Greif­swald.
Nach ein­er kurzen Beschäf­ti­gung am Schw­er­iner Insti­tut für Denkmalpflege war Renate Krüger freiberu­flich als Autorin kun­st- und kul­turhis­torisch­er Sach­büch­er, Romane und Essays tätig.  Nach der poli­tis­chen Wende 1989/90 arbeit­ete sie im Mitar­beit­er­stab des Land­tagspräsi­den­ten von Meck­len­burg-Vor­pom­mern und in der Aufar­beitung des Ver­hält­niss­es von katholis­ch­er Kirche und SBZ/DDR.

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