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Häusliche Gewalt:
Interventionsstellen im Land am Limit

Die steigenden Fälle von häuslicher Gewalt setzen die Interventionsstellen in Mecklenburg-Vorpommern unter enormen Druck. Trotz eines beispiellosen Anstiegs an Hilfegesuchen fehlt es an dringend benötigtem Personal, um die Betroffenen angemessen

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  • Veröffentlicht Oktober 9, 2023

Die steigenden Fälle von häuslicher Gewalt setzen die Interventionsstellen in Mecklenburg-Vorpommern unter enormen Druck. Trotz eines beispiellosen Anstiegs an Hilfegesuchen fehlt es an dringend benötigtem Personal, um die Betroffenen angemessen zu unterstützen.

 

Michaela Kohnert von der AWO in Schwerin
Michaela Kohn­ert von der Inter­ven­tion­sstelle gegen häus­liche Gewalt an ihrem Arbeit­splatz bei der AWO Schw­erin. Mit hohem per­sön­lichen Engage­ment ver­sucht sie, die vielfälti­gen Auf­gaben zu erfüllen. | Foto: maxpress/Steffen Holz

 

In den Büros der AWO-Inter­ven­tion­sstelle gegen häus­liche Gewalt in Meck­len­burg-Vor­pom­mern herrscht Alarm­stufe Rot. Die steigen­den Fal­lzahlen von häus­lich­er Gewalt set­zen das Per­son­al unter enor­men Druck, während gle­ichzeit­ig der Bedarf an Unter­stützung für Betrof­fene wächst. Die Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er sind gezwun­gen, in ein­er Art „Triage” zu entschei­den, welche Fälle sie proak­tiv bear­beit­en kön­nen und welche zurück­bleiben müssen. Dieses Prob­lem bet­rifft nicht nur die Lan­deshaupt­stadt Schw­erin, son­dern auch die Hans­es­tadt Ros­tock und das gesamte Land.

Zahlen alarmierend gestiegen

Die Zahlen sind alarmierend. „Die Zahl der Fälle von häus­lich­er Gewalt in Schw­erin hat sich mit 275 Fällen von 2006 auf 725 Fälle im ver­gan­genen Jahr fast ver­dreifacht, und wir erwarten in diesem Jahr einen Anstieg auf mehr als 1.000 Fälle”, erk­lärt Axel Mielke, Geschäfts­führer der AWO-Schw­erin. Doch die Anzahl der Per­son­al­stellen ist gle­ich geblieben, was zu ein­er drama­tis­chen Sit­u­a­tion in den Inter­ven­tion­sstellen geführt hat.

Die Sit­u­a­tion wird zusät­zlich dadurch ver­schärft, dass der Geset­zge­ber den Inter­ven­tion­sstellen immer mehr Auf­gaben aufer­legt hat, die mit dem vorhan­de­nen Per­son­al kaum zu bewälti­gen sind. Seit 2010 berat­en sie zusät­zlich Betrof­fene von Stalk­ing, seit 2018 gibt es inten­sive Fal­lkon­feren­zen zu Hochrisikofällen, und seit let­ztem Jahr wurde die Def­i­n­i­tion von häus­lich­er Gewalt erweit­ert. So gilt sie nun auch für Fälle, in denen Paare nicht mehr zusam­men­leben oder nach Beendi­gung der Part­ner­schaft. Die Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er betreuen ein großes Gebi­et, darunter die Land­kreise Lud­wigslust-Parchim, Nord­west­meck­len­burg und die Lan­deshaupt­stadt Schw­erin. Auf­suchende Beratung ist längst keine Option mehr.

Beratung nicht auf dem „Niveau eines Callcenters”

„Pro­fes­sionelle Beratung darf bei diesem The­ma nicht auf dem Niveau eines Call­cen­ters lan­den, und unsere Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er dür­fen nicht in die unan­genehme Sit­u­a­tion ein­er Triage gedrängt wer­den”, warnt AWO-Bere­ich­sleit­er Stef­fen Mar­quardt. Sein Faz­it ist ein­deutig: „Der Geset­zge­ber beauf­tragt uns, Betrof­fe­nen von häus­lich­er Gewalt und Stalk­ing unverzüglich pro­fes­sionelle Hil­fe anzu­bi­eten, gle­ichzeit­ig bekom­men wir immer mehr Auf­gaben, die mit dem ver­füg­baren Per­son­al nicht zu bewälti­gen sind. Es beste­ht ein drastis­ch­er Wider­spruch zwis­chen dem, was geset­zlich gewollt ist und poli­tisch umge­set­zt wird.”

Die Inter­ven­tion­sstellen haben jahre­lang daran gear­beit­et, häus­liche Gewalt aus der Tabu-Ecke ins Licht der Öffentlichkeit zu rück­en. Ihre Kam­pag­nen ermuti­gen Betrof­fene, das Schweigen zu brechen und sich Hil­fe zu holen. Doch lei­der ste­ht diese Hil­fe nicht mehr allen zur Ver­fü­gung.

Angesichts der drama­tisch gestiege­nen Fal­lzahlen fordern die fünf Inter­ven­tion­sstellen im Land drin­gend zusät­zlich­es Per­son­al. Sie ver­lan­gen jew­eils min­destens 1,25 Vol­lzeit­stellen für die Erwach­se­nen­ber­atung und je 0,72 Vol­lzeit­stellen für die Kinder- und Jugend­ber­atung im kom­menden Haushalt des Lan­des aufzunehmen. Ros­tock und Schw­erin benöti­gen sog­ar zwin­gend zwei zusät­zliche Vol­lzeit­stellen. Die benötigte Summe von 774.800 Euro jährlich für das ganze Land erscheint ver­gle­ich­sweise über­schaubar.

Landespolitik muss Dramatik erkennen

„Wir erwarten, dass die Lan­despoli­tik die Dra­matik dieser Sit­u­a­tion erken­nt, unsere Forderun­gen unter­stützt und die Summe für die drin­gend benötigten Per­son­al­stellen in den Haushalt des Jus­tizmin­is­teri­ums aufn­immt”, betont Axel Mielke. Falls diese finanzielle Unter­stützung aus­bleibt, dro­ht sich die bere­its anges­pan­nte Lage weit­er zu ver­schär­fen, warnt Stef­fen Mar­quardt. „Wir gefährden nicht nur das Ver­trauen der Betrof­fe­nen in die Insti­tu­tion des Staates, son­dern frus­tri­eren auch unsere Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er, die auf­grund von per­ma­nen­tem Zeit­druck kaum noch ihr Know-how ein­set­zen kön­nen. Das muss sich drin­gend ändern!”