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Zu Besuch bei der Literatur-Preisträgerin Helga Schubert

  Im vergangenen Jahr erhielt die gebürtige Berlinerin Helga Schubert einen der bedeutendsten Literaturpreise der deutschen Sprache. Ende Juni wurde ihr in Klagenfurt der renommierte Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Mit 80 Jahren

  • Veröffentlicht März 10, 2021
Helga Schubert in ihrem Garten | Foto: schwerin-lokal / Peter Scherrer

 

Im vergangenen Jahr erhielt die gebürtige Berlinerin Helga Schubert einen der bedeutendsten Literaturpreise der deutschen Sprache. Ende Juni wurde ihr in Klagenfurt der renommierte Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Mit 80 Jahren war sie die älteste Teilnehmerin, die jemals in Klagenfurt antrat. Wie viele Veranstaltungen seit Beginn der Corona-Pandemie wurde auch der Literaturwettbewerb digital organisiert. Für die seit dreizehn Jahren in Mecklenburg lebende Literatin brachte die elektronische Kommunikation überhaupt erst die Chance zur Teilnahme. Sie brauchte nicht an den Wörthersee zu reisen, sondern konnte an dem Vorlesewettbewerb aus ihrem sonnigen Sommergarten teilnehmen. Sie verreist ungern, weil sie seit einigen Jahren zu Hause ihren kranken Mann pflegt.

 

Schreiben ist Nachtarbeit

Wir sitzen im sonnig-luftigen Wintergarten, umgeben von Pflanzen mit Blick ins weite Frühlingsgrün. Heute kommt der Pflegedienst und unterstützt die 81-jährige bei der Betreuung. Da hat sie Zeit für Besucher. Das stummgeschaltete Smartphone der Schriftstellerin leuchtet während unserer Unterhaltung immer wieder auf. Sie erzählt von der enormen Aufmerksamkeit nach dem Preisgewinn. Und von der erneuten medialen Beachtung vor der nun anstehenden Veröffentlichung. Am 18. März 2021 wird ihr neuer Band „Vom Aufstehen“ erscheinen. Er enthält auch den preisgekrönten Text des Bachmann-Wettbewerbs. Die Printmedien aus dem deutschsprachigen Raum zeigen reges Interesse. Funk und Fernsehstationen wechseln sich bei den Anrufen ab. Helga Schubert erfreut das mediale Interesse. Aber zwischen Süddeutscher Zeitung und dem NDR schaut sie auch nach der Suppe aus einem Biofleischknochen, die sie für ihren Mann kocht. So sind die Prioritäten in ihrem Leben derzeit klar gesetzt. Das Schreiben hat sie in die Nacht verlegt.

 

Malen in ruhiger Landschaft

Das Atelier im Haus | Foto: schwerin-lokal / Peter Scherrer

Mit dem emeritierten Professor Johannes Helm, der wie sie Psychologe ist, lebt sie in einer ruhigen Umgebung in Neu Meteln zwischen Wismar und Schwerin. Das Ehepaar betreibt dort eine kleine Galerie. Heute begeht der Mediziner, Maler und Schriftsteller seinen 94. Geburtstag. Auch nach den vielen Gemälden, die er fertiggestellt hat, kann Johannes Helm nicht von der Arbeit an der Staffelei lassen. Töpfe, Tuben, Tiegel und Pinsel liegen in seinem kleinen Atelier daher immer in Reichweite. Helga Schubert hat die 800 noch vorhandenen Werke katalogisiert. Sie führt uns durch das Galeriegebäude neben ihrem Wohnhaus. Viele der Ölbilder sind in kleinen Broschüren abgebildet. Kunstinteressierte können sich einen raschen Überblick über das Oeuvre Johannes Helms verschaffen.

 

Die „Bilderwechsel-Galerie“ bei Helm – Schubert | Foto: schwerin-lokal / Peter Scherrer

Unter dem Titel „Bilderwechsel“ öffneten die beiden Kunstschaffenden monatlich die Gemäldegalerie für das interessierte Publikum. Auch diese freundlich-kommunikative Annäherung an Kunst und Kultur fiel den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zum Opfer. Der Bilderwechsel ist daher nun schon ein Jahr passé.

 

Bleibt das Lesen. Unsere Literaturexpertin Manja Wittmann hat ein Rezensionsexemplar „Vom Aufstehen“ als E-Book erhalten. Sie war begeistert – und wird den Band zum Erscheinungsdatum hier auf Schwerin Lokal vorstellen. Für unsere Leserinnen und Leser stellte Susanne Scherrer einige Fragen an Helga Schubert.

 

Im Gespräch mit Helga Schubert

Als Erstes natürlich: Wie geht es Ihnen und Ihrem Mann Johannes Helm während der Corona-Pandemie? Wie lebt es sich in Neu Meteln in diesen Zeiten? Vermissen Sie etwas, oder haben Sie vielleicht etwas hinzugewonnen?

Helga Schubert im Gespräch mit Susanne Scherrer.| Foto: schwerin-lokal / Peter Scherrer

Helga Schubert: Mein Mann wird am 10. März 94 Jahre alt. Er ist stark pflegebedürftig und kann nur noch im Rollstuhl sitzen. Ich pflege ihn allein zu Hause, und jeden Morgen kommt zu meiner Unterstützung seit bald 4 Jahren eine Schwester des Schweriner Pflegedienstes Brunkow. Dazu habe ich im Minijob eine junge Frau für zwei Mal zwei Stunden in der Woche angestellt, die mir in Haus und Garten hilft und alles einkauft.

Wir leben sehr zurückgezogen im Dorf, man begrüßt sich, wenn man sich auf der Straße trifft. Durch Corona sind seit März 2020 keine Bilderwechsel in unserer Galerie mehr möglich gewesen. Wir haben im Sommer die Galerie renoviert und die 800 Gemälde meines Mannes, die von seinen über 1300 geschaffenen Gemälden noch in unserem Besitz sind, nach der Entstehung geordnet und wollen nach dem Ende der Ansteckungsgefahr wieder öffnen. Seit 2008, als wir unsere Berliner Wohnung aufgaben und ganz hierher zogen, machten wir 130 monatliche Bilderwechsel mit einem literarisch-musikalischen Programm bei freiem Eintritt, zu dem meist um 50 Besucher kamen. Mein Mann freut sich schon auf die nächsten Veranstaltungen und vermisst sie, während ich die Ungestörtheit, die die Kontakt-Beschränkungen mit sich brachten, genutzt habe, um ein ganzes Buch fertigzustellen. Ich habe die Stille hier schätzen gelernt.

 

„Bücher haben mich getröstet und meine Phantasie noch mehr gestärkt.“

Ich habe als junge westdeutsche Frau Ihre ersten Bücher in den 1980er-Jahren im DDR-Kulturzentrum in Budapest kaufen können. Dort gab es Titel, die für DDR-Bürger nicht leicht zu beschaffen waren. Im Laufe der Jahrzehnte ist das Papier zerfallen. Sie selbst schreiben, dass Ihre Mutter 10.000 Bücher hinterlassen hat? Was haben Sie damit gemacht? Welche Bedeutung hat das Medium Buch für Sie?

Helga Schubert:

Eine zentrale Bedeutung. Ich habe von klein an gelesen, Bücher haben mich getröstet und meine Phantasie noch mehr gestärkt. Ich habe von den geerbten Büchern viele meinem Sohn und seiner Familie gegeben, weil ich viele der Ausgaben auch schon selbst hatte. Wir sind hier auch von Bücherwänden umgeben.

 

In „Vom Aufstehen“ beschreiben Sie als vordergründige Rahmenhandlung die Rituale eines beginnenden Tages mit Ihrem Mann. Diese wandeln sich leise über die Jahrzehnte. Die Krankheit Ihres Mannes spielt eine Rolle dabei. Im Text beschreiben Sie das abendliche Vorsingen eines Liedes Ihrer Mutter, sezieren dessen Teile. Welche Rolle spielen Rituale für Sie?

Helga Schubert:

Mir sind Wegmarken im Leben wichtig: Als mein Sohn seinen Facharbeiterbrief bekam, mit 18, hab ich ihn spontan zu einem tollen Abendessen im 37. Stockwerk des Hotels Berolina am Alexanderplatz eingeladen und ihm gesagt, dass er von nun an allein für sich sorgen könnte. Und dass ihn das unabhängig von allem macht. Geburtstage, Todestage von lieben Menschen, seit Jahrzehnten die gemeinsamen Mahlzeiten, das Gedenken an einen Geburtstag, an den Todestag lieber Menschen, das tägliche Beten, die tägliche Rechenschaft, der ganz geregelte Tagesablauf. Diese Struktur bringt Geborgenheit in mein Leben.

 

„Liebe empfinden ist ein Geschenk.“

Ihre Mutter starb hochbetagt, ein ganzes Jahrhundert lang hat sie gelebt. Wie entlässt man eine Mutter, die 1940 kein Kind wollte, und wenn überhaupt, wenigstens einen Jungen; die ihr Kind dann vielleicht lieber auf der Flucht verloren hätte? – Wie kann man mit einer Mutter leben, die keine Liebe zeigt? Was macht das mit einem?

Helga Schubert:

Man sucht sich Mütterlichkeit und Wärme woanders, man kann es woanders finden, schließlich hat man Erbarmen. Nicht nur Geliebt werden ist ein Geschenk, auch Liebe empfinden ist ein Geschenk. Man kann es nicht einfordern.

Sie sprechen auch über das Schreiben, denken an die Leserin oder den Leser: „Etwas erzählen, was nur ich weiß. Und wenn es jemand liest, weiß es noch jemand. Für die wenigen Minuten, in denen er die Geschichte liest, in der unendlichen, eisigen Welt.“ Das ist für mich einer der berührendsten Sätze ihres Textes. Können Sie sich vorstellen, warum?

Helga Schubert:

Ja, weil Sie in dem Moment im Innersten verstanden, dass man sein ganzes Leben Brücken zu anderen Menschen bauen darf. Und dass man nie verlassen ist.

 

„Ich wünsche mir, dass die Menschen, die ich liebe, noch lange Zeit am Leben bleiben.“

Die Bilder Ihres Mannes warten auf Besucherinnen und Besucher. Was können Schwerinerinnen und Schweriner tun, um Ihnen dabei zu helfen, diese bald wieder der Öffentlichkeit präsentieren zu können? Was wünschen Sie sich selbst für die Zukunft?

Helga Schubert:

Einzeln oder zu zweit können die Schweriner und Schwerinerinnen ja jetzt schon in die Galerie kommen, wenn sie sich kurz vorher telefonisch anmelden, denn die Bilder hängen ja an den Wänden, sie stehen in den Regalen dort. Und für mich wünsche ich mir, dass mein Mann seinen Lebensmut behält, dass er die Kraft aufbringt, noch manchmal zu malen, und dass ich auch weiter schreiben kann, dass mein Buch gelesen wird. Und dass die Menschen, die ich liebe, noch eine lange Zeit am Leben bleiben.

Vielen Dank und einen herzlichen Glückwunsch an Ihren Mann!


„Vom Aufstehen“, Helga Schubert

EUR 22,00 €

dtv, Originalausgabe, 224 Seiten, ISBN 978-3-423-28278-9

Veröffentlichung: 18. März 2021

 

Written By
Peter Scherrer

geb. 1959, gelernter Metallfacharbeiter und grad. Historiker, arbeitete für Gewerkschaften und politische Stiftungen in Europa u.a. 2015-2019 als stellvertretender Generalsekretär beim Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), in Brüssel. Schwerpunkte: Industrie- und Sozialpolitik sowie Lokalgeschichte und Kulturelles. Wohnt seit 2017 in Schwerin.

1 Comment

  • Ein sehr, sehr schöner Text. Der selbst jemanden mit einem klaren Hang zu Sachbüchern als zu literarischen Texten neugierig stimmt. „Unendliche, eisige Welt“ – das kommt mir vertraut vor und könnte eine Seelenverwandtschaft andeuten. Also: DAS Buch wird schon einmal vorgemerkt!
    Vielen Dank für diese, ich würde fast zagen: zarte Schilderung und Vorstellung einer besonderen Frau und Schriftstellerin.

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